i n d e x       k u n s t        t e x t e        a u s s t e l l u n g e n        a u k t I o n         k o n t a k t                        

Prof. Dr. Klaus Hammer im Gespräch mit Gerd Sonntag
veröffentlicht in der Wochenzeitschrift für Politik und Kultur "FREITAG" 1992 
(Fre 25.09.92 Nr 44 / S.11 und S.12)

Seine meist großformatige Malerei mit ihren scheinbar trivialen Bildgegenständen beansprucht auf sehr direkte Weise die Aufmerksamkeit des Betrachters. Der Maler und Objektkünstler Gerd Sonntag (Jahrgang 1954),  seit 1978 in Berlin lebend, malt seine Figuren, Köpfe, Szenen und Dinge mit unwirklichen Farben und vereinfachten Konturen. Sie sind weder mit Volumen noch mit räumlicher Tiefe ausgestattet. So wird zunächst der Anschein erweckt, daß die Wiedergaben in ihrer elementaren Gegenständlichkeit naiv seien. Bei genauerem Hinsehen erweist sich das aber als ein bewußt eingesetztes Mittel, um Distanzierung von bisherigen ästhetischen Übereinkünften zu bekunden und eine unmittelbare Rezeption anzuregen. Bei aller explosiven Leidenschaftlichkeit, mit der Sonntag seine Themen auf Leinwand und Papier bringt, zeugt das reduzierte Bildklima, um das es ihm zu tun ist, ebenso von gedanklicher Schärfe wie ausgewogener Komposition. Kunst kann nicht optimistischer sein als die Weit, die uns umgibt.

KLAUS HAMMER: Kunst und Leben erscheinen als ständiger Widerspruch. Das Leben in die Kunst hineinzunehmen, das  ist ja der Kampf, der wohl viel belastender ist als Barnett Newmans Satz: »Ästhetik bedeutet mir als Künstler soviel wie den Vögeln die Ornithologie«.

G. SONNTAG:  Man ahnt, was gemeint ist, und es klingt auch gut und sicher. Nur hat der Vogel halt von der Existenz der Ornithologie keinerlei Kenntnis und auch nicht den Wunsch, sich zurechtweisend über sie zu äußern. So etwas wirft ein Künstler in den Raum, dem die Ästhetik mehr bedeuten muß als den Vögeln die Vogelkunde. Vielleicht kann einfach gesagt werden: Erst die Kunst, dann die Rezension, und - die Rezension kann mich mal. Leben mag wohl das einzig Interessante sein, aber Kunst bringt nun mal nur - Artefakte hervor, kein Leben. Was man einbringen kann, sind Beobachtungen, das heißt, ihre Selektion. Sonst nichts davon.

KLAUS HAMMER: War es nicht immer die große Herausforderung für den Künstler, der ewige Antagonist zu sein, der in Frage stellt, was andere zu glauben meinen, der sogar die Rolle der Kunst und des Künstlers in Frage stellt?

G. SONNTAG:  Das Infragestellen scheint unumgänglich. Es wird dem Künstler geradezu aufgenötigt. Was auf den einzelnen eindrischt, können Sie jeden Tag bemerken: ein Chaos an Ideen, Interpretationen, Betrachtungen, Informationen, Erfahrungen und Dogmen. Was bleibt, ist ein Auf-sich-selbst-geworfen­Sein. Wachsende Kommunikationstechnik - wachsende Vereinsamung. Die Kunst, die alles Infragestellende, wird zu therapeutischer Sozialhilfe zurechtgebogen, die sie Ausführenden wandern aus dem Häuflein der Forscher hinüber in die Kaste der Rehabilitanden. Dort erkennt das Umfeld im Künstler ein liebgewonnenes Pflegekind.

KLAUS HAMMER:  Ist - mit Heiner Müller - Kunst jetzt eher der Prozeß, die Produktion, nicht so sehr das Produkt? Und ist es gerade auch die politische Dimension von Kunst, gegen die Verfestigung, auch Verwertbarkeit in Produkte zu sein?

G. SONNTAG:  Die politische Dimension von Kunst in Europa sehe ich bei Nahe Null. Der Versuch, sie von Nahe Null auf einige Werte darüber hinaus zu heben, wird immer wieder unternommen, hat aber mit den jeweiligen politischen Vorgaben zu tun, denke ich, nicht mit den Absichten. Das ist etwa so, wie wenn jemand vom Fahrrad fällt und die Belastung der Krankenkasse als subversive Tat beschreibt. Kunst - Prozeß oder Produkt? Das Problem wurde tausendmal angesprochen, es ist klassisch. Für die künstlerischen Untersuchungen ist natürlich der Prozeß das erfüllende Moment. Für den Literatur-, Theater- und Kunstmarkt wird das Produkt das Entscheidende. Was ein Produkt ist, bestimmt dabei nicht der Künstler mit seinem Wollen, sondern das Umfeld mit seiner VerbraucherDiktatur. Es könnte ein Strich sein, es könnte ein angerissener Gedankenfetzen sein. Sicher, der Künstler bestimmt das Individuelle an der Form seiner Ideen, aber nicht, ob das ein Produkt ist. Die Form wird durch jeden neuen Gedanken, durch jede Intuition veränderbar, das Produkt wird einfach nur weitergegeben oder verwertet.

KLAUS HAMMER: Das hört sich an, als berühre Sie der ganze Kunstmarkt wenig ... ?

G. SONNTAG:  0h - nein. Der Kunstmarkt berührt mich - mit seinen glühenden Fingerspitzen. Aber das ist eigentlich kein Thema, ob er mich berührt, denn er berührt jeden, auch wenn man sich gern entzogen hätte. Was geschieht denn? Die Künstler findet man eingeschnürt in Steuerabsetzungsproblemchen, Belegesammelei, ewig anhaltende Suche nach begehrten Stipendien und anderen Gnadenerlassen, die ihr Aussterben als Spezies verhindern sollen. Galerie-Theater und andere Kunstreservate werden erfunden. Und da ist nun der MARKT, der alles zersetzende, zerteilende und aufspaltende in Brauchbares und Unbrauchbares, dieses irdische Gericht, wo materiell bewertet wird, was geistig ein Tätigsein war.
Wenn einer von hundert- und aberhunderttausenden Malern als Millionär aus dieser Würfelbude hervortritt, was ist er dann in der Gesellschaft? Soziale Mittelklasse. Man rümpft die Nase, wenn bekannt wird, daß irgendein Bildwerk mal 500.000 Dollar erbrachte. Davon geht die Hälfte an den Händler, vom Rest die nächste Hälfte an die Steuerkasse. Welcher halbwegs bedeutende Drogenhändler würde dafür arbeiten? Wie wollte man damit seine Einflüsse festigen? Welcher Künstler kann seiner Phantasie durch materielle Wirkung auf die Umwelt Einfluß verschaffen? Eine Bank unter hundert Milliarden Umsatz hat überhaupt keine politische Bedeutung mehr. Das ist der Zustand. Die teuersten Bilder der Welt - und das sind nicht die der Lebenden - bringen nicht das Geld für einen Jagdbomber auf. Es gab Zeiten, da erwirtschafteten Künstler von Rang mehr Finanzen, als ihre Fürsten für ganze Armeen ausgaben. Ich weiß nicht, wie viele Paul-Klee-Bilder man verhökern müßte, um an eine dieser Raketen zu kommen, die Menschen zu Fleischklumpen zerschmelzen. Das ist die Bedeutung der Kunst in der Gesellschaft, das sagt der Markt.

Der Unikate herstellende, moderne Künstler ist, bei guter Laune besehen, so etwas wie ein Diamantenschleifer des Geistes; sein Wissen schätzen nur wenige Eingeweihte. Na ja. Wird der Künstler nicht als soziales Mißgeschick betrachtet, sondern als geistig tätiges, hakenschlagendes Menschentier, so muß man sagen: er ist ein Geheimbündler.

KLAUS HAMMER: Wenn der Künstler sich so auf die Bedingungen der Konsumgesellschaft einlassen muß, mag das nicht wie ein Verrat erscheinen an dem, wofür die Moderne einmal einstand, wie eine Kapitulation vor den bürgerlichen Werten, gegen die sie einst antrat?

G. SONNTAG:  Ich bin von der Moderne nicht als ihr Gefolgsmann eingeschworen worden. Die Moderne ist doch nur ein kunsthistorischer Begriff. Denken Sie mal wieder an die Ornithologie...

KLAUS HAMMER:  Sind aber nicht längst Visionen, Utopien der Moderne in die Werbung, in die Unterhaltungsindustrie, in die konsumorientierte Vermarktung integriert worden, erfahren sie nicht hier, in ihrer banalsten Variante, ihre Fortschreibung?

G. SONNTAG:  Ich bin mir da nicht sicher. Ich würde auch die ständig als trivial bezeichneten Künste nicht so abtun. Sie sind ja nur Ausdruck eines Zustandes, in dem all das Durcheinander umherschwimmt und die Hoffnungen ihre Ufer suchen. Die Utopien werden einfach privatisiert. Der gesamte Erkenntnis- und Tatsachenwust macht Utopien zu Angelegenheiten Einzelner. Was umarmt uns denn so heftig? Eine alles beherrschenwollende Freizeit- und Juxkultur, die ihre imperialen Ansprüche mit schwersten Waffen und erschlagenden Geldmitteln anhaltend unter Beweis stellt. Danach hat der Mensch doch gestrebt: nach einem Jahrmarktdasein, in dem alle Arten der Verantwortung auf die Bezahlbarkeit reduziert werden. - Ich hatte es vorhin schon erwähnt: Der freischaffende, individuell tätige Künstler ist, soziologisch gesehen, ein Sozialfall und kulturell ein gesellschaftliches Alibi. Bei privat für ihn günstiger Lage kann er es dahinbringen, ein begehrter Besserwisser und reisender Konferenzteilnehmer mit erträglicher Finanz zu werden. Manchmal schafft der Künstler es auch zum öffentlichen Ratgeber, dessen Ratschläge allerdings erst umgedeutelt werden müssen in die Zeichen einer nichtkünstlerischen Sprache.

KLAUS HAMMER:  Indem der Künstler Zeichen setzt für den Menschen, den gequälten wie den quälenden, fordert er ja den Betrachter auf, hinter dieses Zeichen zu kommen.

G. SONNTAG:  Ja, aber der Betrachter ist der, der eingeweiht ist. Wenn ich in der Kunst Zeichen setze, dann setze ich sie, weil ich nicht anders kann. Ich bin verdammt dazu wie jeder Künstler und genieße diese Verdammnis, wie andere ihre Krankheiten genießen. Die Weitergabe solcher Zeichen ist schon eine Einmischung in die Belange des Umfeldes. Man muß die Zeichen des Umfeldes erlernen. Vielleicht beschäftigen sich einige Lebewesen des Umfeldes auch mit meinen Signalen. Ich habe da so meine Vermutungen, wenn ich an dieses Gespräch mit Ihnen denke.

KLAUS HAMMER:  Der Autor schreibt für sich und hat den Rezipienten dabei nicht im Blick.Wenn dieser aber das Geschriebene auch als eine Grunderfahrung ansieht, die für ihn zutreffen oder der er etwas abgewinnen kann, dann ist das ein Glückszustand für beide. Autor wie Rezipienten, Ist das mit Ihrer Situation vergleichbar? Sie sind ja auch gespannt. wie Betrachter auf Ihre Arbeiten reagieren. Sie stellen ja nicht nur aus, um zu verkaufen.

G. SONNTAG:  Ich fage mich inzwischen auch, wieso man ständig an diesen Ausstellungen teilnimmt. Die ganze Ausstellungsmanie ist doch eine Ödnis. Immer häufiger sind es nur noch die Weinglas schwenkenden Damen, an denen die Blicke kleben bleiben. In dieser Wüste ist jede Art, einen Hintern zu zeigen, eine Genialität. Wann finden Sie denn mal ein gutes Werk?  Etwas, wovor Sie staunend anerkennen dürfen!? Für die wenigen sichtbaren Verdichtungen von Idee - gibt es dafür diese Millionen von Ausstellungen, mit Milliarden von Bildern? Sie werden es mir vielleicht nicht abnehmen wollen, aber meine Lust am Ausstellen hat deutlich nachgelassen. Der gesamte Ausstelltourismus hält doch nur von der individuellen, eine Materie untersuchenden Tätigkeit des Künstlers ab.
In der Malerei erfinde ich Welt. Projektionen werden in die äußere Welt geworfen - Entwürfe eben. Das halte ich für lebenswert. Das gibt mir Befriedigungen - das erledigt mich. Während. also der bildnerische Entwurf gewagt wird, findet noch einmal die Erschaffung von Welt statt. Gleichgültig, wie bedeutend oder unbedeutend das Werk sein mag. Ausstellen dagegen ist Arbeit, Geld verdienen, Dinge umherbewegen, auf sich aufmerksam machen, sich abmühen, Medien füttern, sofern ein Künstler gefragt ist, was ja vorkommt.
Es gibt Abende, da bin ich schon auf dem Weg zu irgendeiner von den vielen Ausstellungseröffnungen, zu denen ich irrtümlich eingeladen werde, weil meine Adresse in die Kartei einer Galerie hineinrutschte, ich bin schon fast dort, da drehe ich wieder um und verdrücke mich in mein Atelier. Ich gieße mir einen Sherry ein, lege mich auf meinen schönen, weichen Fußboden, lasse mir vom Fernseher die Freßgewohnheiten einer aussterbenden Tierart vorführen oder sehe mir einen Stasiverfolger an oder ich lande bei einer freundlichen Frau. Nur nicht in einer Galerie sein müssen. So geht es mir mit den Ausstellungen. Es passiert halt.

KLAUS HAMMER:  Ich frage dennoch weiter. Da ist doch das Antizipatorische, das Mehr an Ahnen, Sehen, das den Künstler von anderen unterscheidet, der etwas vorgibt, vielleicht vorzugeben sucht, um dann in Kommunikation mit den anderen zu kommen...

G. SONNTAG:  Mit welchen anderen? Der Andere ist ja nicht bestimmt. Es kann jener andere sein, der in den Raum kommt und sagt: »0 Gott - was für ein Scheiß.« Schon indem ich Farbe auftrage, entstehen die Fragen. Wieso wird auf irgendein Material überhaupt Farbe aufgetragen? Wird eine Leinwand, die man bemalt, nicht in ihrer Reinheit durch jeden Strich verdorben? Mit welchem Anspruch geschieht das alles? Wieso setze ich Grün neben Purpur und Grau? Das ganze Fragen endet damit, daß ein Sprechender zu einem Schweigenden werden muß, auf den Berg chinesischer Weisheit hinaufkrabbelt und nicht mehr heruntersteigt.

KLAUS HAMMER:  Es gibt ja eine weitgehende Ablehnung ostdeutscher Kunst im "Westen"... Worin wird das künftige Problem für die Künstler in den neuen Bundesländern liegen, liegt es in der Unterscheidung von "opportunistischer" und subversiver Einstellung, wobei es ja auch im "Westen" eine  sogenannte Staatskunst gibt, in der Unterscheidung Abstraktion und Figuration, von expressiver oder konzeptueller Gestaltung, wobei auch hier die Grenzen fließend sind?
 
G. SONNTAG:  In der Frage steckt schon das ganze Dilemma. Was Sie fragen ist die Frage nach Politik, Geschäft und Ideologie. Der Künstler aber muß mit seinem erbärmlichen Leidensdruck zurechtkommen, der ihn in der Gesellschaft oft an den Rand der Lächerlichkeit führt. Dabei muß er noch ein paar Beobachtungen ernsthaft betreiben, um überhaupt etwas entdecken zu können, das seine Unternehmungen ausmacht. Er darf im Geschäft nicht völlig untergehen, von der Politik nicht ausgehöhlt werden, und in den Ideologien, die zu erkennen sind, darf er sich nicht verlieren. All sein Haken-Schlagen darf ihn nicht zu Tode hetzen. Das sind ganz harte Bedingungen. Was Sie aber ansprechen, ist das Problem der Vermischung von Ideologie und Geschäft. Es ist die moderne Mentalität des Römischen Weltreichs, wonach Kunst außerhalb des Imperiums eigentlich gar nicht existieren darf, da ja alles andere Dasein nur auf Barbarei beruht. Diese Borniertheit zieht sich durch die gesamte Geschichte der europäischen WeltbeherrscherKultur. Die Künstler machen sich hier immer wieder gerne nützlich. Für den Austausch von Ideen ist das albern. Mit Kunst als Austausch, als Erkenntnisprozeß hat das nichts zu tun.

KLAUS HAMMER:  In Ihre Bilder kommt Farbe aggressiv, aber auch weich hinein...

G. SONNTAG:  Die Farbe ist nichts anderes als der Träger der Informationen. Manchmal teige ich auch in ihr herum.

KLAUS HAMMER:  Das Sujet ist ja eine Entblößung des Ichs (auch der Gesellschaft?), und doch halten Sie immer wieder eine ziemliche Distanz?

G. SONNTAG:  Die Distanz wächst und zu allen Dingen, aber sie verhindert ja die Entblößung im Werk nicht. Interessant ist die Frage, ob man auch etwas von der Gesellschaft entblößt. Nur, wer kann das lesen? Wer kann die gespeicherte Information aufschlüsseln, sich an der Entdeckung vergnügen? Entblößung findet ja nach allen Seiten hin statt. Auch das Verbergen­Wollen wird in der Kunst entblößt. Gegenüber den verschiedenen Ideen von Geborgenheit und Sicherheit verhalte ich mich wie ein Obdachloser. Ich wache am Morgen auf und stehe vor allen Problemen wieder wie am Tag davor. Da hilft auch keine Erfahrung, denn sie bringt ja lediglich neue Probleme ein. Das Maximale, was man erreichen kann, scheint mir, ist, so weit zu kommen, daß die angestellten Beobachtungen helfen, die völlige Auslieferung des ICHs zu verhindern. Ansonsten stochert man in sich herum, gräbt und buddelt wie in einem Tunnel, als ob da was zu finden wäre. Was findet man? - nichts als Kunst! Alles andere ist Lebensart.

KLAUS HAMMER:  Was reizt Sie an tradierten Motiven, der Madonna, der Frau als Göttin, dem Mutter-Kind-Motiv, den Geschlechterbeziehungen?

G. SONNTAG:  In der Kunst geht es nur um das Unerklärliche, das nicht wissenschaftlich Benennbare. Das alles zwingende Mann­Frau-Dilemma strahlt einen angenehmen Schauder bedrohlicher Unendlichkeit aus. Der jetzige Zustand ist sowenig eine Erlösung, wie irgendein anderer zuvor. Die Ahnung um diese Bedrohlichkeit, die auf jedem lastenden Sehnsüchte geben der Farbe einen ganz anderen Klang, wenn ich male und dieser Stoff sich in die Farbe hineinschleicht.

KLAUS HAMMER:  Sie wollen doch aber gerade solche Determinationen aufbrechen ... ?

G. SONNTAG:  Ja, aber die Verdammnis - die Figur ist die Verdammnis, die Proportion, die Erfahrung, von der man sich gern gelöst hätte. Das Ihr-Ausgesetzt-Sein wird auch vom stilistisch abstrakt vorgehenden Künstler eingestanden. Das ist bei Pollock ähnlich wie bei Strawalde. Ist die Figur aus dem Bild verschwunden, so bleibt die Verdammnis, das In-Ihr-Aufgewachsen­Sein, die körperliche, räumliche Erfahrung von Spannung, Druck und Entspannung die Frage nach der Abwesenheit stellt sich ein. Wo ich Zwänge leugne, wird eine Heiterkeit vorgetäuscht, die überhaupt nicht zutrifft.

KLAUS HAMMER:  Sie favorisieren die Serie in Ihren Arbeiten: Sie hören mit der einen Arbeit auf und setzen dort wieder mit der nächsten ein.

G. SONNTAG:  Das sind ganz simple Anstöße. Ich gehe eine Straße entlang und sehe da einen Stein neben den anderen gepflastert, wie ein großes Ineinander, wie eine Zellenkolonie - kein Teil ist wie der andere, und doch ist es ähnlich, und alles ergibt eine sich mit den Ereignissen ändernde, große Form die wiederum unendlich geteilt ist - die Straße. So ähnlich erscheinen mir Köpfe, Körper, Fernsehgeflimmer, Nachrichtenzeilen, Pflanzenteile, Gestrüpp und Haare, und was sich so bemerken läßt, auch Geräusche und Gerüche, und so arbeite ich Probleme ab oder umgehe sie - bis mir wieder ein neuer Anstoß begegnet.

KLAUS HAMMER:  Das ist auch das Problem der Schichtungen, der Transparenz, des Durchscheinenden und dann auch wieder des Zudeckens, so daß aus der Fläche fast eine Räumlichkeit hervorgeht...

G. SONNTAG : ...wie man Gips auftragen würde oder Erde. Für mich ersetzt die Farbe das, was für andere Material ausmacht. Die Farbe ist abstrakt, da sie in ihrer Bedeutung sofort bei Gebrauch völlig verwandelt werden kann. Sie ist auch sofort da - durch Erwerb - das Material muß ich erst finden, um es in seiner Bedeutung einbringen zu können. Wenn ich es nicht finde, weiß ich es nicht.

KLAUS HAMMER:  Und wie machen Sie das mit Ihren Objekten?

G. SONNTAG:  Ich hatte ein ganzes Lager voll Kram angesammelt, Gerümpel also, Fundstücke. Da waren die Dinge einfach da. Wo sonst nur die Farbe da ist.

KLAUS HAMMER:  Aber ordnen Sie das, geben Sie dem einen Sinn oder machen Sie es mehr vom Zufall abhängig?

G. SONNTAG:  Zufall insofern, als schon da ist, was verwendet werden kann. Und wenn es da ist, wird es natürlich wieder geordnet, also ausgewählt. Nichts darf in die Nähe der Austauschbarkeit kommen. Dazu fällt mir etwas ein. In der Berliner Stiftung Starke hatte ich ein beachtliches Werk von einem amerikanischen Objektkünstler gesehen:. Ein Schrottauto, aufgeschnitten und ähnlich einem Bastelbogen aufgeklappt, plattgewalzt und die einzelnen Teile wie große Lederstücke miteinander verbunden. Das Ganze hing an der Wand wie eine gigantische Tierhaut aus  Blech. Eine genial verabeitete Beobachtung der modernen Trophäenkultur.

KLAUS HAMMER:  Ist mit der Objektkunst nicht auch ein breiterer Rezipientenkreis möglich?

G. SONNTAG: Wenn ich den Kreis der Rezipienten erweitern wollte, müßte ich Künstler in anderen Medien werden als Objektkunst oder Malerei. Beide bringen Unikate in Räume. Die Objektkunst bietet natürlich Abstraktion an. Durch Verfremdung eines funktional bereits bekannten Gegenstandes. Das hat Künstler, wenn sie nicht nur Handwerker waren, sondern forschende Beobachter, auch schon in anderen Zeiten beschäftigt. Dieser Leonardo zum Beispiel hockte stundenlang in feuchten Kellern vor den von Salpetersalzen zerfressenen Wänden, an denen er Malerei studierte.

KLAUS HAMMER:  Heute aber werden schon die Salpeterwände ausgestellt...

G. SONNTAG: In einer Szene, wo die Beobachtung im Rang weit hinter der Veräußerung steht, wo der Forscher nichts bedeutet - der Ingenieur aber alles, da werden nun diese Wände selbst in die Galerien geschleppt. Das ist einfach Diebstahl. Der letzte Ausdruck einer Aneignungsgier. Ihr künstlerischer Ausdruck und ihr bisheriger Höhepunkt. Der Baum darf nicht mehr nur im Walde stehen - er muß in die Kunsträume, wo eine Zeichnung vom Baum nichts bewirken kann; und in den Wald geht man ja nur, um ihn zu zertrampeln.
Der Leopard kommt als Trophäe über den Jägerschreibtisch, und die getrocknete Kaulquappe baumelt an irgendeiner Wand in irgendeiner Galerie auf gleicher Höhe mit den bemalten Gesichtern der Besucher. Irgendwer arbeitet bestimmt schon daran, wie sich ein Weg finden läßt, um die Sonne als Helium-Batzen in ein Museum zu sperren.

K. HAMMER: Duchamp erklärte ein Männerpissoir zum Kunstwerk und löste damit eine Revolution aus...

G. SONNTAG: Das ist anzuerkennen, aber die Zeit der Revolution des Pißbeckens ist eine gewesene. Ich spreche von etwas anderem. Die ganze Neigung der Zivilisation, den Rest der Welt zu plündern und zu Geld oder Ideengut zu verwerten, wird heute künstlerisch angenommen. Auch von ihren Kritikern. Was ist der Schädel in einer Galerie gegen denselben Schädel, wenn man ihn auf einem Elefantenfriedhof in der zusammenbrechenden Wildnis entdeckt? Alles wird beklaut und mit Bedeutung belegt. Es gibt keinen Gegenstand,  kein Phänomen in der Natur oder sonstwo, das nicht von einem europäisch beeinflußten Künstler beklaut worden wäre; letztlich werden sogar die Graffitis von den Wänden gerissen und in Museen vergewaltigt...
Was nicht verkaufbar ist, auf dem Markt keine Rolle spielt, kann registriert werden als Massentherapie durch Diebstahl, Plünderung und Trophäensammlung. Ein Ersatz für fehlende Kulthandlungen, Opferrituale und ähnliches. Ein Mensch hat ein Herz, und da findet sich bestimmt jemand, der es durch den Fleischwolf leiert und als Brei in einer Galerie ausschüttet.
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Fre25.09.92 Nr 44 / S. 11 und S.12

 

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